„Langandauernde Koalitionsverhandlungen können wir uns nicht leisten"
von Aziza Freutel, erschienen am 27. September 2021 auf www.textilwirtschaft.de
TextilWirtschaft: Jamaika oder Ampel - was wäre Ihre Wunschkoalition?
Steffen Jost: Ich halte von Jamaika viel, weil ich denke, dass die FDP die CDU wieder auf einen wirtschaftspolitischen Kurs bringen kann. Und die Grünen könnten in dieser Koalition wichtige neue Akzente setzen. Es ist ja kein Geheimnis, dass wir gerade beim Thema Klima noch einiges zu tun haben.
Wie bewerten Sie insgesamt das Ergebnis der Bundestagswahl?
Das Ergebnis hat mich wenig überrascht. Meine Sorge ist generell, dass eine neue Regierung einen Riesenberg an Problemen lösen muss, die von der Pandemie massiv getroffenen Branchen aber keine zusätzlichen Belastungen brauchen können. Problemlösungen bedürfen oft auch Geld, und da sind wir dann schnell beim Thema Steuererhöhungen. Und wenn man an zusätzliche Steuereinnahmen denkt, dann denkt man immer auch an eine Mehrwertsteuer-Erhöhung. Das bringt viele Einnahmen. Aber man kann die Politik davor nur warnen. Gerade in einer Zeit, in der die Preise sowieso stark steigen, würde das den Handel zusätzlich belasten. Und der Handel braucht Kapital, unter anderem, um sich an den Transformationskosten beteiligen zu können, etwa in Bezug auf klimaschonender Technologien. Die Belastungen müssen klein gehalten werden, damit der Handel hier unterstützen kann.
Was bedeuten die Mehrheitsverhältnisse für die Modebranche?
Mir war vor der Wahl schon klar gewesen, dass nach der Wahl die Welt eine andere werden würde. Nehmen Sie die regenerativen Energien: Da sind wir nicht so weit gekommen, wie wir es gemusst hätten. Die Herausforderungen, den gesetzlichen Vorgaben zu genügen, werden für die Wirtschaft steigen. Und die hängen nicht nur von den Grünen und ihrer Durchsetzungskraft in der Koalition ab. Das sind gesamtgesellschaftliche Herausforderungen, die angegangen werden müssen. Da hat die letzte Regierung zu viel vor sich hergeschoben. Nichts zu machen ist keine Lösung.
Wir werden jetzt die Dächer unserer Modehäuser zur Solar-Energiegewinnung nutzen. Auch, weil die Kunden das von uns erwarten. Ein nachhaltigeres Sortiment ist das eine, wobei da vor allem die Industrie am Zug ist. Der Handel muss sich aber auch beteiligen. Da geht viel und es lässt sich auch einiges einsparen. Wobei die Energiepreise aktuell so schnell steigen, so schnell können sie gar keine Kosten senken.
Es wird schon über eine ähnlich lange Regierungsbildung spekuliert wie vor vier Jahren. Was würde das für die Branche bedeuten?
Lang andauernde Koalitionsverhandlungen können wir uns nicht leisten. Wir haben Entscheidungsnot, vor allem bei Themen wie die Zukunft der Innenstädte. Zudem haben wir ein schwieriges Frühjahr vor uns. Die Insolvenzgefahr wird zunehmen. Insgesamt gibt es für die neue Regierung Vieles zu tun. Nehmen Sie nur die Reform der Sozialversicherung oder des Gesundheitswesens.
Welchen Themen sollte sich die neue Bundesregierung Ihrer Meinung nach am dringlichsten annehmen?
Ein wesentlicher Punkt sind sicherlich die Innenstädte. Man sieht mittlerweile viele Leerstände. Da muss die Politik aufpassen, dass nicht mit vermehrter Verkehrsberuhigung auch eine Geschäftsberuhigung einhergeht. Ohne Verkehr - öffentlich und privat - geht Handel nicht.
Gerade in der Corona-Zeit hat sich der Modehandel in Berlin nicht ausreichend repräsentiert gefühlt. Wie wollen Sie als BTE das in der neuen Legislaturperiode ändern?
Erst einmal muss ich dieser Einschätzung entschieden widersprechen: Der HDE hat als politischer Arm des Handels gerade während Corona sehr viel geleistet. Ohne den HDE hätte es die Überbrückungshilfe III nicht in dieser Form gegeben. Ich kann verstehen, dass man sich noch mehr wünschen kann. Aber ohne den HDE hätten wir viele der Unterstützungen gar nicht. Lobbyarbeit fndet eben nicht öffentlich statt. Hinzu kommt, dass unsere Branche sich oft nicht angesprochen fühlt, wenn etwa über Non Food-Handel gesprochen wird. Doch genau dazu gehört der Modehandel. Gerade in Zeiten, in denen die Politik unter Entscheidungsdruck steht, ist ein Verband als Ansprechpartner enorm wichtig. Für übergeordnete Handelsthemen ist der HDE da die richtige Adresse. Für branchenspezifische Themen ist es der BTE. Das soll durch den Umzug nach Berlin noch stärker werden.